Gewichtsneutrale Ernährungsberatung

Gewichtsneutrale Ernährungsberatung

Die Gewichtsabnahme ist derzeit in der Ernährungsberatung und -therapie eine der häufigsten Empfehlungen zur Verbesserung der Gesundheit von mehrgewichtigen Personen. Dabei ist wissenschaftlich längst erwiesen, dass Diäten in den allerseltensten Fällen zu einem dauerhaften Gewichtsverlust führen und die Faktoren, die über Gesundheit und Krankheit bestimmen, weit über das Gewicht oder individuelle Verhaltensweisen wie Ernährung und Bewegung hinausgehen. Gewichtsneutrale Konzepte wie Health at Every Size® und Intuitive Ernährung sind stark im Kommen und immer mehr Ernährungsfachkräfte integrieren diese Prinzipien mit Erfolg in ihre Praxis.

Verursacht ein hohes Körpergewicht Erkrankungen?

Dicke Menschen sind statistisch gesehen kränker und auch das Risiko, bestimmte Krankheiten zu bekommen, ist höher – das ist überhaupt keine Frage. In unserer Gesellschaft ist aber niemand einfach nur dick. Ein hohes Körpergewicht kommt mit einer Reihe an Begleitfaktoren. Diese können sich unabhängig vom Körpergewicht negativ auf die Gesundheit auswirken, wie bspw. Gewichtsstigmatisierung, Weight Cycling, das unabhängig vom Gewicht Gesundheitsrisiken birgt, und ein erhöhtes Stresslevel durch die Diät an sich [1, 2]. Aber auch die Gesundheitsversorgung von mehrgewichtigen Menschen ist generell schlechter [3]. Viel zu oft erzählen Patient*innen in Beratungsgesprächen, dass Diagnosen nicht gestellt oder Untersuchungen verweigert werden aus dem festen Glauben heraus, sie müssten “nur” abnehmen, dann würde sich das gesundheitliche Problem von selbst erledigen. Dazu kommt, dass Menschen, die sich von Fachpersonal nicht ernst genommen oder sogar beschämt fühlen, deutlich seltener zu Vorsorgeuntersuchungen gehen. Sie erkranken dadurch möglicherweise schwerer, da Krankheiten später entdeckt werden, weiter fortgeschritten sind und dementsprechend schlechter behandelt werden können.

 

Was also genau das Erkrankungsrisiko erhöht, ist nicht geklärt und leider vermischen auch Fachgesellschaften mitunter Korrelation und Kausalität. Bei der Kausalität gilt, dass die Variable A (Ursache) zu einer Zunahme oder Abnahme von Variable B (Wirkung) führt. Die Korrelation hingegen misst eine Beziehung von zwei Variablen ohne eine Richtung der Beziehung vorzugeben. Das bedeutet, es gibt einen Zusammenhang, aber wie genau dieser aussieht und ob dieser durch weitere unberücksichtigte Faktoren zustande kommt, kann nicht genau beurteilt werden. Studien zur Beantwortung der Frage, warum dicke Menschen ein erhöhtes Risiko für bestimmte Krankheiten haben, sind epidemiologische Studien. Dieses Studiendesign ist wenig geeignet, um ursächliche Zusammenhänge zu erkennen. Da die Studienteilnehmer*innen unter normalen Lebensbedingungen begleitet werden, gibt es viele unbekannte, schwer messbare Einflüsse, die sich unter Umständen gegenseitig verstärken. Dass ein hohes Körpergewicht Krankheiten verursacht ist vielleicht eine gesellschaftliche Meinung, aber keine wissenschaftliche Tatsache. Werden in Studien zu Gesundheit und Gewicht Genetik, Umweltfaktoren und Verhaltensweisen in der Analyse berücksichtigt, zeigt sich, dass das Gewicht allein überhaupt keine Aussagekraft mehr hat [4].

Diäten sind nicht nachhaltig

Trotzdem suggerieren Gesundheitsdienstleister*innen häufig bewusst oder unbewusst, dass eine Gewichtsabnahme auf jeden Fall die Gesundheit von mehrgewichtigen Personen verbessern würde. Damit verstärken sie die Scham, die viele Menschen erleben, weil es ihnen trotz aller Bemühungen nicht gelingt, ihr Gewicht dauerhaft zu reduzieren. Es wird allgemein angenommen, dass dick_fette (inklusive Schreibweise) Menschen nicht gesund sein können und sie selbst zu ihrem Gewicht eine Menge beitragen, indem sie sich falsch ernähren, zu viel essen und sich zu wenig bewegen. Natürlich haben Umweltfaktoren und individuelle Verhaltensweisen einen Einfluss auf das Körpergewicht, aber weniger als allgemein angenommen wird [5]. Es ist wenig hilfreich zu glauben, dass jede Person in der Lage sein kann, einen BMI zwischen 19-25 kg/m2 oder einen zweistelligen Taillenumfang zu erreichen. 95-98% aller Interventionen zum vorsätzlichen Gewichtsverlust scheitern in den ersten 1-5 Jahren [6] und fast zwei Drittel der Abnehmwilligen sind nach der Diät schwerer sind als vorher [7]. Die wahrscheinlichste Folge von Diäten ist paradoxerweise eine Gewichtszunahme [8]. Geht das Gewicht nach der Diät wieder nach oben, sind oft auch die gesunden Verhaltensweisen der Patient*innen wieder Geschichte. Wie viel Schaden die Diäten auf der anderen Seite anrichten, darüber lässt sich nur spekulieren. Erschreckenderweise zeigen Personen, die eine große Menge Gewicht verlieren und erfolgreich halten, oft dieselben Verhaltensweisen wie Menschen in einer diagnostizierten Magersucht [9].

So funktioniert gewichtsneutrale Ernährungsberatung

Immer mehr wissenschaftliche Studien zeigen, dass es nicht nur möglich, sondern sogar sinnvoll ist, unabhängig vom Gewicht die eigene Gesundheit zu verbessern [10, 11, 12]. Health at Every Size® (Abk.: HAES®) ist ein medizinisch erprobtes, gewichtsneutrales Konzept, das gesundheitsorientierte Verhaltensweisen unterstützt. Diese tragen in einem ganzheitlichen Konzept zu mehr Wohlfinden bei und berücksichtigen dabei die individuellen körperlichen, emotionalen, sozialen, mentalen und wirtschaftlichen Bedürfnisse. Das bedeutet nicht, dass ein gewichtsneutraler Ansatz gegen eine Gewichtsabnahme ist. Es gibt Menschen, die mit dem HAES®-Ansatz gesündere Lebensgewohnheiten entwickeln und dabei Gewicht verlieren. Für andere Menschen kann eine Gewichtszunahme ein ganz wichtiger Teil ihrer Heilung sein. Health at Every Size bedeutet auch nicht, dass jedes Körpergewicht gesund ist, sondern dass Gesundheitsförderung bei jedem Körpergewicht betrieben werden kann und Gesundheit in einem sehr viel größeren Gewichtsbereich möglich ist als in dem, den wir momentan als gesund ansehen.

 

Welche Empfehlungen gewichtsneutral arbeitende Ernährungsberater*innen zu einer ausgewogenen Ernährungsweise und einem gesundheitsfördernden Bewegungsverhalten geben, unterscheidet sich oft gar nicht so sehr von einem gewichtszentrierten Paradigma. Der Unterschied liegt hauptsächlich in der Motivation, die dahintersteht und zu den neuen Verhaltensweisen führen soll. Das Ziel der gewichtsneutralen Ernährungsberatung ist es, die Klient*innen dabei zu unterstützen, das eigene Essverhalten zu normalisieren und die Rahmenbedingungen für eine bedürfnisorientierte Ernährung zu schaffen, die durch Selbstfürsorge motiviert ist (= Intuitive Ernährung). Der gewichtsneutrale Beratungsstil macht keine Vorgaben, wann, was oder wie viel gegessen werden „darf“. Er unterstützt dabei Vertrauen, Respekt und Wertschätzung für den eigenen Körper zu erschaffen und dadurch eine innere Motivation, sich liebevoll um sich selbst zu kümmern. Die gesunden Verhaltensweisen, die dadurch automatisch entstehen, sind sozusagen ein Nebeneffekt.

Grafik 1

 

Die gewichtsneutrale Ernährungsberatung und -therapie bietet eine Alternative zum gewichtszentrierten Ansatz und bringt nachweislich positive und nachhaltige Gesundheitsergebnisse ohne die negativen Folgen von Diäten. Sie ermöglicht sowohl Berater*innen als auch Patient*innen gleichermaßen sinnvolle und selbstfürsorgliche Wege zu finden, die die Gesundheit und die Lebensqualität unabhängig vom Gewicht verbessern. Zudem ermächtigt die gewichtsneutrale Ernährungsberatung die Patient*innen neue Strategien auszuprobieren ohne zu verurteilen, zu belehren oder zu beschämen.

Quellen

[1] Puhl R, Suh Y. Health Consequences of Weight Stigma: Implications for Obesity Prevention and Treatment. Curr Obes Rep. 2015 Jun;4(2):182-90. doi: 10.1007/s13679-015-0153-z. PMID: 26627213. https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/26627213/

[2] Madigan CD, Pavey T, Daley AJ, Jolly K, Brown WJ. Is weight cycling associated with adverse health outcomes? A cohort study. Prev Med. 2018 Mar;108:47-52. doi: 10.1016/j.ypmed.2017.12.010. Epub 2017 Dec 22. PMID: 29277416. https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/29277416/

[3] Phelan SM, Burgess DJ, Yeazel MW, Hellerstedt WL, Griffin JM, van Ryn M. Impact of weight bias and stigma on quality of care and outcomes for patients with obesity. Obes Rev. 2015 Apr;16(4):319-26. doi: 10.1111/obr.12266. https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/25752756/

[4] Matheson et al. 2012. Healthy lifestyle habits and mortality in overweight and obese individuals. J Am Board Fam Med. 25(1):9-15. https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/22218619/

[5] Kopelman P. 2010. Symposium 1: Overnutrition: consequences and solutions. Foresight Report: the obesity challenge ahead. Proc Nutr Soc. 69(1):80-5 https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/19954564/

[6] Mann T, Tomiyama AJ, Westling E, Lew AM, Samuels B, Chatman J. Medicare’s search for effective obesity treatments: diets are not the answer. Am Psychol. 2007 Apr;62(3):220-33. doi: 10.1037/0003-066X.62.3.220. PMID: 17469900. https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/17469900/

[7] Wing RR, Phelan S. Long-term weight loss maintenance. Am J Clin Nutr. 2005 Jul;82(1 Suppl):222S-225S. doi: 10.1093/ajcn/82.1.222S. PMID: 16002825. https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/16002825/

[8] Dulloo AG, Jacquet J, Montani JP. How dieting makes some fatter: from a perspective of human body composition autoregulation. Proc Nutr Soc. 2012 Aug;71(3):379-89. doi: 10.1017/S0029665112000225. Epub 2012 Apr 5. PMID: 22475574. https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/22475574/

[9] Gianini LM, Walsh BT, Steinglass J, Mayer L. Long-term weight loss maintenance in obesity: Possible insights from anorexia nervosa? Int J Eat Disord. 2017 Apr;50(4):341-342. doi: 10.1002/eat.22685. Epub 2017 Feb 2. PMID: 28152191; PMCID: PMC5386813. https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC5386813/

[10] Bacon L, Aphramor L. Weight science: evaluating the evidence for a paradigm shift. Nutr J. 2011 Jan 24;10:9. doi: 10.1186/1475-2891-10-9. Erratum in: Nutr J. 2011;10:69. PMID: 21261939; PMCID: PMC3041737. https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/21261939/

[11] Tomiyama AJ, Carr D, Granberg EM, Major B, Robinson E, Sutin AR, Brewis A. How and why weight stigma drives the obesity ‘epidemic’ and harms health. BMC Med. 2018 Aug 15;16(1):123. doi: 10.1186/s12916-018-1116-5. PMID: 30107800; PMCID: PMC6092785. https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/30107800/

[12] Tylka TL, Annunziato RA, Burgard D, Daníelsdóttir S, Shuman E, Davis C, Calogero RM. The weight-inclusive versus weight-normative approach to health: evaluating the evidence for prioritizing well-being over weight loss. J Obes. 2014;2014:983495. doi: 10.1155/2014/983495. Epub 2014 Jul 23. PMID: 25147734; PMCID: PMC4132299. https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC4132299/

[13] Tomiyama AJ, Hunger JM, Nguyen-Cuu J, Wells C. Misclassification of cardiometabolic health when using body mass index categories in NHANES 2005-2012. Int J Obes (Lond). 2016 May;40(5):883-6. doi: 10.1038/ijo.2016.17. Epub 2016 Feb 4. PMID: 26841729. https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/26841729/

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Verfasser*in: Dr. Antonie Post

Dr. Antonie Post ist Dipl.-Ernährungswissenschaftlerin, Ernährungsberaterin (VDOE), Qualifizierte Diät- und Ernährungsberaterin (VFED), zertifizierte Beraterin für Intuitive Ernährung (Ausbildung bei Tribole/Resch), Podcasterin (Iss doch, was du willst! Podcast), Speakerin und Autorin (Gesundheit kennt kein Gewicht) und arbeitet in eigener Praxis für gewichtsneutrale Ernährungsberatung und -therapie nach den Prinzipien von Health at Every Size®. Neben ihrer Aufklärungsarbeit über die individuellen und gesellschaftlichen Auswirkungen von Gewichtsstigmatisierung ist eines ihrer großen Herzensthemen die gewichtsneutrale Gesundheitsversorgung.